HILTRUD SCHÄFER
8.April.— 10.Juni.2018
An folgenden Tagen ist Hiltrud Schäfer in der Galerie
von 11-16 Uhr anwesend:
13.4., 19.4.,11.5., 13.5.,17.5.,2.6.,
Finissage 10.6.
Schwerpunkt in Hiltrud Schäfers Kunst ist seit Jahren der Mensch,
der menschliche Körper, wie zum Beispiel in den Installationen „Menschenbilder“,
„Das Leid der Mütter“, „Als der Himmel die Erde berührte“,
„Homeless“, in der Bühneninstallation „Haut“ für das Tanztheater
Osnabrück. Immer sind es figürliche Skulpturen aus Papier, die im Mittelpunkt
stehen; immer sind es existenzielle Themen wie Werden und
Vergehen, Vergänglichkeit, Tod, der Mensch in seiner Körperlichkeit.
Die hier gezeigten Arbeiten – angeregt durch einen Fundus von Köpfen
und Gliedern aus einer aufgelassenen Puppenmanufaktur – sind
auf den ersten Blick leicht lesbar, ja sie haben sogar etwas Spielerisches,
ein „Puppentheater“?
Aber beim genauen Hinsehen bieten sie dem Betrachter vielfältige
Assoziationen, weitere Bedeutungsebenen: Verletzung, Manipulation,
Zerstörung, Angst, Gewalt.
Ihre Skulpturen sind ungestalt und skurril mit ihren deformierten Körpern,
vielen Armen, Doppelköpfen, mehreren Beinen. Es sind Mutanten,
eigentümliche Zwischenwesen. Die oft falschen Proportionen,
ihre Unvollständigkeit ist beabsichtigt, ist integraler Bestandteil von
Hiltrud Schäfers Arbeitsweise.
Sie liegen oder stehen auf bahrenähnlichen „Trägern“ aus altem Verbandsmaterial,
das die Assoziation an Verletzung, Operation, Labor
noch verstärken. Auch das kalkige Weiß, die Faltigkeit des weißen Papiers
der Körper lässt eine Vorstellung von Lebendigkeit nur schwer
aufkommen.
»Hiltrud Schäfers PuppenMenschenFiguren sind ent-stellt, spielen liebevoll
mit dem Ab-Normalen; in dieser „entstellten Ähnlichkeit“ (Walter
Benjamin) loten sie die Spannweite des figürlich-körperlich Möglichen
aus – nicht als Ansicht eines Schrecklichen, eher als ästhetische
Adoption des lebendig Deformierten. Über dem Abgrund der Abweichung
scheint wie unsichtbar das Bild makelloser Schönheit auf, Ahnung
von Vollständigkeit ohne Ausgrenzung.« (Annette Hülsenbeck)
Hiltrud Schäfer
geboren 1937 in Luckau, Dannenberg
lebt und arbeitet in Osnabrück
Ausstellungen und Projekte (Auswahl)
1992 Biennale Internationale de Lausanne. Lausanne, F
1995 Studienreise nach Japan
1999 Papiersymposium. Taipe, Taiwan (RC)
Artist in residence. Instituto Cultural Boliviano Aleman,
Sucre, Bolivien (BOL)
2003 Paper as Objekt. Grafton, AUS
Aufgelesen. Buchobjekte und Künstlerbücher, Horn, A
2004 Re-Art-One. Cuxhaven
Sag’ und Grab’ mal. Internationales Bildhauersymposium,
Gartow/Wendland
2005 Re-Art-One. Umweltbundesamt Dessau und Berlin
Menschenbilder. Marktkirche Hannover
Paper Art. Papiermühle Basel, CH
2006 Menschenbilder. St. Katharinen, Osnabrück
Paper Road. Papiermuseum Steyrermühl, A
Papiermusiken. Kunstverein Bad Essen
Anwachsende Gespräche. Kunstforum Eisenturm, Mainz
EinAnder. Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück
2007 Chemises prétextes. Textilmuseum Hüsseren-Wesserling, F
2008 21. Festival International des Arts Plastiques. Mahares, TUN
1. Ausstellung Ephimerer Kunst. Granada, E
2009 Kunstverein Meppen
Galerie Clasing & Etage, Münster
2010 Lahnungen. Galerie écart, Osnabrück
2011 Über das Verschwinden. Yavneh Gallery, Yavneh/Jerusalem, IL
Con brio. Wilfried Israel Museum, Hazorea/Israel
2012 Con brio. Kunstmuseum, Beer Sheva/ Israel
Leicht wie ein Mondvogel. Kunstverein Melle
2013 Langsam anwachsende Gespräche
Hiltrud Schäfer und Wilfried Bohne
Palgallery, Miercurea Ciuc, Rumänien
Neunaugenpoesie. Galerie Letsah, Osnabrück
2015 Menschenbilder, Installationen
Ev. Stadtkirche, Westerkappeln
Ariadnes Faden, Textile Findbücher
Tuchmachermuseum Bramsche
2016 Die Zukunft der Bilder, Kloster Bentlage, Rheine
2017 Kunstpreis Osnabrück
Çanakkale Art Walk, Osnabrück
Kunst in der Region, Gravenhorst
Preise und Auszeichnungen
1994 Preisträgerin Wettbewerb der Ev. Kirche zum Jahr
der Familie
1995/96 Stipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern
1996 Preisträgerin Wettbewerb der Bundesanstalt für Arbeit,
Künstlerische Ausgestaltung eines Sitzungssaales
Kunstpreis des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land e. V.
2005 Preisträgerin Triennale Internationale du Papier. Charmey, CH
Annette Hülsenbeck
Rede anlässlich der Vernissage der Ausstellung von Hiltrud Schäfer/ 8.4.2018
UNERWARTET
Liebe Hiltrud, lieber Reinhard Richter, liebe Anwesende,
Unerwartet
Zu diesem Titel sind wir hier und heute eingeladen worden.
Der Gegenbegriff wäre erwartet: sich etwas erwarten, eine relativ feste Vorstellung davon haben, was kommen wird, oder in diesem Fall, was es zu sehen geben wird. Aber es geht um UNERWARTETes
Werden mit/in dieser Ausstellung von Hiltrud Schäfer Erwartungen enttäuscht? Positiv wie einem ein unerwartetes Glück, eine neue Erfahrung oder Erkenntnis zu teil werden kann? Negativ weil wir Arbeiten von Hiltrud Schäfer schon gesehen haben, zu kennen meinen und uns auf ein Wiedersehen freuen?
Unerwartet kann sich auch auf die Dimension der künstlerischen Arbeit beziehen, Kunst – die etwas Neu zu sehen gibt, gewohnte alltägliche Wahrnehmung unterbricht – geradezu gegen das Erwartbare anarbeitet. Dabei überrascht sich die Künstlerin/der Künstler immer wieder selbst – im Arbeits-prozess entstehen neue Wege, Bilder und Objekte gewinnen eine Eigendynamik – unerwartete Assoziationen finden eine Form.
Jean Paul bezeichnet die „Findkunst“[1] als eine Gabe etwas Neues zu gestalten. Das Wort inventio wird im deutschen mit „Erfindung“ übersetzt, was sowohl die „Neuschöpfung“ als auch die „Auffindung“ von etwas schon Vorhandenem meinen kann. Impuls und Material vieler Objekte dieser Ausstellung waren/sind Fundstücke – ein Konvolut von Puppenköpfen, Armen, Schulterteilen und Beinen aus einer aufgelassenen PorzellanPuppenfabrik, zerbrechlich, nicht ganz vollendet – es fehlen die Bemalung, der Glanz der letzten Brands; bis auf einen Kopf hat Hiltrud Schäfer dies noch durch einen Überzug mit stumpfem Weiß betont. Und diese Fragmente, Körperteile erwarteten ihre Vervollständigung zur Puppe, Puppe von lat. pupa – kleines Mädchen -, die figürliche Nachbildung, das Abbild eines – meist weiblichen- Menschen, erwartbar war ein kleines Eben- oder Idealbild des Menschen, genauer der Frau/des Mädchens.
Kunst – so Tony Cragg – hat damit zu tun, neue Territorien aus der Nicht-Kunstwelt für die kunstschaffende Welt zu reklamieren.[2] So sind aus den Beständen der seriellen Fabrikproduktion hier nun Puppenfiguren ganz anderer Art entstanden, kein ‚nettes‘ Spielzeug, auch nicht geeignet als schöner Schmuck des bürgerlichen Wohnzimmers (historisch waren die Porzellanpuppen geschonte Kostbarkeiten, ein Modellbild der Frau).
Es sind Skulpturen, die spielerisch-ernst das Zusammensetzen von Einzelteilen zu einer Figur zeigen – den im Ausgangsmaterial fehlenden Körper fantasievoll ergänzen, als Papierkörper bunt gemalt wie ein moderner Kleidkörper – aber mit zerbrochenen Gliedmaßen oder mit einer Vielzahl von Füßen und Beinen, weit von Normalität entfernt. Andere Figuren finden Halt in einer Bleiummantelung, die eigene Hinfälligkeit stützend. Bei einem anderen Objekt wird der Bleimantel zur Hülle dreier Köpfe, die ihrerseits eine Art Innenkörper bilden.
Schutz und Stützung im Spannungsfeld von Verletzung und Trost strahlen die Objekte mit dem mit altem Verbandsmaterial umwickelten Rahmen, dem Skateboard aus, so wird dies Assoziationsfeld bestärkt.
Auch die Künstlerin arbeitet seriell, aber jede Figur ist einzig. Es ist ein Spiel mit dem Nicht-erwartbaren, dem Un-normalen; was als Typenteile in Serie produziert wurden, wird un-typisch neu zusammengefügt. Ein Spiel mit menschlichem Baukasten – ähnlich der Arbeit zeitgenössischer Gen- und Reproduktionstechniken?
Künstlerisch kunstgeschichtlich ist das Spiel mit Einzelteilen und Fragmenten und ihrer Neuzusammensetzung, nicht nur von Bildelementen, auch des menschlichen Körpers als Skulptur, in den 1920er virulent bei den Dadaisten und Surrealisten; Hans Bellmer konstruierte in den 1930er aus Teilen von Schaufensterpuppen, mit Holz, Metall und Gips fetischartige Puppen. Seit den 1990er Jahren wird diese Art der Körperumgestaltung von weiblichen Künstlerinnen thematisiert, bearbeitet wie von Cindy Sherman mit ihrer Puppenteile-Sammlung, wenn sie medizinische Prothesen oder anatomische Übungsmodelle akquiriert, die naturgemäß als Einzelteile geliefert werden; sie konstruiert additiv neue Gebilde aus Teilen, die eben zuvor nicht als originärer, heiler Körper, sondern auf unterschiedliche Einheiten verteilt oder völlig
zusammenhangslos existiert haben.[3]
Ganz eigen an den Arbeiten von Hiltrud Schäfer scheint mir die Spannweite von Verletzlichkeit und Halt; auch ihre großen papierenen Menschenfiguren sind ungestalt und skurril mit ihren oft falschen Proportionen, ihrer beabsichtigten Unvollständigkeit; sie finden Halt in einem Gestell – bizarr wird der Kopf durch eine Manschette geschützt, wie sie Tierärzte für den Heilungsprozess ihrer tierischen Patienten verwenden. Die kleine Figur auf dem Skateboard hat eine fast väterliche Person als Stütze, der schwarze Vogel bewacht die kleine Puppe – in aller Ambivalenz von Bedrohung und Schutz.
Puppen sind doppelt codiert, zugleich wird die Anspielung auf das Naturvorbild des Menschen und ihr Gemachtsein als Artefakt zur Schau gestellt. Paradoxer Weise vermitteln sie in ihrer Doppelgängerfunktion in ihrer miniaturisierten Form wie in einem Vergrößerungsglas viel über Menschen und Menschen-Bilder.[4] „Nicht die Puppen bringen die Geschichten hervor, sondern die Geschichten die Puppen.“[5]
Welche Geschichten haben diese Puppenskulpturen hervorgebracht – in welche Konstellation gehören sie? Der Resonanzraum ist zeitgenössisch sozial, technisch wie kulturell die Machbarkeit, programmierte Neuschöpfung des Menschen, sein Ausgang in körperlose Virtualität wie eine möglich scheinende Perfektionierung der Körper – dieser Vor- oder Zielstellung stellt Hiltrud Schäfer eigentümlich deformierte Wesen gegenüber.
„Für gewöhnlich entzieht sich das an-sich-für-uns sein der Dinge unserer Aufmerk-samkeit, da im alltäglichen ‘Zusammenhange unserer Beschäftigungen die Wahrneh-mung sich gerade soweit der Dinge annimmt, als ihre vertraute Gegenwart reicht, nicht soweit, um zu entdecken, was sie Unmenschliches bergen.“[6]
Hiltrud Schäfers PuppenMenschenFiguren sind ent-stellt, spielen liebevoll mit dem Ab-Normalen; in dieser „entstellten Ähnlichkeit“ (Walter Benjamin)[7] loten sie die Spannweite des figürlich-körperlich Möglichen aus – nicht als Ansicht eines Schrecklichen, eher als ästhetische Adoption des lebendig Deformierten. Über dem Abgrund der Abweichung scheint wie unsichtbar das Bild makelloser Schönheit auf, Ahnung von Vollständigkeit ohne Ausgrenzung.
Ein Gestaltzusammenhang, der so die Vorder- und Rückseiten lose zusammenhalten vermag als Verknüpfung in Ent-stellung. Walter Benjamin ruft in diesem Kontext die Figur des Bucklicht Männleins eines Kinderlieds auf.
„Dies Männlein ist der Insasse des entstellten Lebens; es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi gesagt hat, dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.“[8] „Warten ist die Chiffre für die geschichtsphilosophische Spekulation auf den Eingriff des Messias. Er wird uns erlösen, d.h. befreien von unserer Fixierung auf Intentionen.“[9]
Benjamin beschließt seine Überlegungen mit dem Zitat aus dem Kinderlied: »Liebes Kindlein, ach, ich bitt, | Bet fürs bucklicht Männlein mit.«[10]
[1] Siehe dazu Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Leipzig 1804, Kapitel 33, § 54
[2] Siehe in: Brandon, Taylor, Kunst heute, Köln, 1995, S.87
[3] Siehe dazu Schrank, Stefanie, Der Körper als Ort des Grauens bei Cindy Sherman, Magisterarbeit, Köln 2010. S. 24
[4] Insa Fooken, Jana Mikota, Vorwort zu: Fooken, Insa /Mikota, Jana (Hrsg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. Göttingen 2014, S. 17
[5] Gundel Mattenklott, ebenda,, S. 40
[6] Maurice Merleau-Ponty zitiert in: Heubach, Friedrich Wolfram, Das bedingte Leben : Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge, München 1996, S. 66
[7] Walter Benjamin Die Mummerehlen in: ders. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Gesammelte Werke, Band IV, Frankfurt 1972. S. 260-263
[8] So Benjamin über die Figur des Bucklicht Männlein in seinem Essay über Franz Kafka, in: Gesammelte Werke Band II, Frankfurt 1977, Seite 432
[9] Willem van Reijen: Sammeln und Übersetzen. In: Übersetzen: Walter Benjamin. Hrsg. von Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 2001, S.259
[10] Walter Benjamin, Das bucklichte Männlein, in; ders. Berliner Kindheit um 1900, Gesammelte Werke, Band IV, Frankfurt 1972, S. 304
Fotos: © Angela von Brill
Text: Hiltrud Schäfer